Deutschlands Brücken bröckeln. Das schiere Alter, manchmal Pfusch am Bau, vor allem aber die Zunahme des Schwerlastverkehrs sorgen dafür, dass Ingenieure Alarm schlagen: Durch Rostfraß und Materialermüdung seien 14 Prozent der rund 120.000 Straßenbrücken sanierungsbedürftig.
Die geschätzte Lebenserwartung von 80 bis 100 Jahren war wohl oft zu optimistisch. Gegen Pfusch helfen mehr Kontrollen der Baufirmen. Gegen Materialermüdung bringen Bauingenieure jetzt "UHPC" in Stellung – "Ultra High Performance Concrete", also Ultrahochleistungsbeton. Bauforscher sagen: UHPC bietet zu gleichen Kosten dieselbe Tragfähigkeit bei 50 Prozent geringerer Masse und eine weit längere Haltbarkeit.
Das neue Material aus den Werkstofflabors hat weit reichende Folgen, denn Beton ist der menschgemachte Werkstoff mit der höchsten jährlichen Tonnage. Etwa 25 Milliarden Tonnen gießen Betonbauer weltweit pro Jahr – mehr als einen Kubikmeter oder mehr als zwei Tonnen pro Kopf der Weltbevölkerung.
Doch der Betonboom hat Nebenwirkungen für die Umwelt. Da ist der schiere Bedarf an Rohstoffen – Kalk, Ton, Sand, Kies –, deren Abbau tiefe Wunden in die Landschaften reißt. Transport und Aufbereitung erfordern viel Energie.
Was weniger bekannt ist: Beton ist ein Klimasünder. Fünf Prozent aller Emissionen des Treibhausgases Kohlendioxid (CO2) gehen auf sein Konto. Der gesamte Weltflugverkehr bringt es nur auf drei Prozent.
Das Hauptproblem ist Zement, der "Klebstoff" , der die Gesteinskörnung – Sand oder Kies – zusammenbackt und das Ganze mit Wasser zu einem steinharten Material kristallisieren lässt. Zement wird aus Kalkstein, Ton sowie Mergel, einem Ton-Kalk-Gestein, hergestellt. Jeweils zehn Tonnen Beton benötigen gut eine Tonne Zement.
Jede Tonne Zement ist wiederum für fast eine Dreivierteltonne CO2 verantwortlich. Etwa die Hälfte davon fällt beim Brennen der Rohmaterialien zum Zementklinker an; das sind tennisballgroße Brocken aus einer Mischung von Kalzium-Aluminium-Silikaten, die gemahlen das Zementpulver ergeben.
Die Rohstoffe werden fünf Minuten lang bei Temperaturen von gut 1400 Grad Celsius gesintert. Das erfordert viel Heizmaterial: Erdöl, Erdgas oder kohlenstoffreiche Abfälle, die beim Verbrennen CO2 freisetzen. Das übrige CO2 entweicht dem Ausgangsstoff Kalkstein beim Sintern infolge einer chemischen Reaktion, ohne die der Zement nicht erhärten würde.
Dies ist aber nur ein Grund dafür, Betoninnovationen voranzutreiben. Denn die Bauexperten suchen Beton, der länger hält und bei verringertem Materialbedarf dieselbe Festigkeit liefert. Das bedeutet: weniger Transporte, zierlichere Bauwerke, weniger aufwendige Fundamente. So ein Material existiert schon, sagt Professor Michael Schmidt vom Fachgebiet Werkstoffe des Bauwesens der Universität Kassel: UHPC.
"Ultrahochfester Beton hat die Druckfestigkeit von Stahl und braucht deshalb wesentlich weniger Stahlbewehrung. Bei gleicher Belastbarkeit benötigen wir die halbe Werkstoffmenge." Genau genommen brauche UHPC-Beton dreimal mehr Zement als normaler Beton, ergänzt der deutsch-amerikanische Bauingenieur Professor Franz-Josef Ulm vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge. Aber weil der Ultra-Beton sieben- bis zehnmal mehr Festigkeit bringe und man deswegen viel weniger davon brauche, bleibe unter dem Strich eine enorme Zementeinsparung.
UHPC ist nicht unbedingt teurer als konventioneller Beton, sagt Schmidt, denn "der gesamte Bauaufwand schwindet". Ganz zu schweigen von der Kostenbilanz über die gesamte Lebensdauer. Denn die neuen Materialien halten länger. Dies vor allem, weil UHPC eine weitgehend gas- und wasserdichte Struktur besitzt. Korrosionsfördernde Feuchtigkeit, Salz und aggressive Gase können praktisch nicht mehr über Kapillaren eindringen.
Das schützt den Beton, denn der zersetzt sich durch aggressive Agenzien mit der Zeit. Und es schützt auch den Bewehrungsstahl vor Korrosion. "Wenn man die Kosten über den ganzen Lebenszyklus einer Brücke aus UHPC durchrechnet, dann ist sie auf jeden Fall billiger als mit herkömmlichen Materialien gebaut", versichert Schmidt. Wenn man geschickt vorgehe, seien sogar die Anfangsinvestitionen nicht höher.
Und wie lange hält eine UHPC-Brücke im Vergleich zur konventionellen? Genau wissen das die Forscher noch nicht. Betontechnologe Schmidt schätzt aus Tests und Hochrechnungen: "Etwa doppelt so lang – bei wesentlich geringerem Instandhaltungsaufwand." Also 150 bis 200 Jahre.
Zu verdanken ist die höhere Qualität des vor 250 Jahren erfundenen Baumaterials einer Grundlagenforschung, die dem Stoff auf den mikroskopischen Grund geht. Forscher wie Schmidt und Ulm schauen mit dem Elektronenmikroskop, wie der Stoff auf der molekularen Ebene gestrickt ist. Das Rasterkraftmikroskop erfasst die atomaren Kräfte, und die sogenannte Nano-Indentierung misst die Härte auf der Nanometer-Ebene.
Bei der Nano-Indentierung drücken die Forscher eine feinste Diamantspitze in das Material. Aus der Geometrie der Spitze, der Eindringtiefe und der aufgewendeten Kraft können sie die Materialeigenschaften erkunden. Beton unterschiedlicher Zusammensetzung wird so analysiert, und Simulationen modellieren dann neue Varianten.
Seit 60 Jahren ist bekannt, wie der fundamentale Baustein des Betons aufgebaut ist, das CSH. Das englische Kürzel steht für Kalzium-Silikat-Hydrat. Es meint feine nadelartige Gesteinskristalle, die beim Aushärten entstehen. CSH bildet wenige Nanometer große Kristalle, die in winzige Hohlräme des Betongefüges hineinwachsen und sie nach und nach füllen. Diese Zwischenräume wollen die Wissenschaftler gezielt verändern. Möglicherweise kann man sie mit Polymeren füllen. Das würde Beton rissstabiler machen. Ein Beispiel dafür aus der Natur sind Muschelschalen, sie bestehen aus dem Mineral Aragonit, das eingebettet ist in eine organische Masse.
Dass auch schon der UHPC der aktuellen Generation vielfach stabiler ist als noch vor 20 Jahren liegt vor allem in der optimalen Größenverteilung der Zementpartikel mit einer Größe von weniger als einem Zehntelmillimeter. Verschiedene Größenklassen lassen sich zu einem besonders dichten und festen Material packen. Betonforscher Schmidt erklärt das Prinzip so: In einer mit Tennisbällen gefüllten Kiste gibt es leere Zwischenräume. Die werden mit Pingpongbällen gefüllt. Kleinere noch verbleibende Hohlräume füllen Glasmurmeln aus.
Die Bälle und Murmeln stehen für Partikel, die anderweitig anfallen und im Wesentlichen aus Quarz bestehen, etwa gemahlener Quarzsand, feinste Flugasche aus den Filtern von Kraftwerken sowie Hüttensand aus Hochöfen. Außerdem synthetisches quarzartiges "Nanosilika". Schmidt: "Zement- und winzige künstliche Quarzpartikel schaffen ein sehr dichtes Gefüge bis in den Nanometerbereich hinab." Was bei der dichten Packung zunehmend fehlt sind die stabilitätsmindernden "Kapillarporen".
Das Material ist nicht nur physikalisch dichter gepackt, die Partikel verbinden sich auch chemisch miteinander und bilden ein dichtes Geflecht aus CSH-Gesteinskristallen. So wird UHPC kapillarporenfrei, "und wo nichts mehr eindringt, kann kein Schaden mehr entstehen", sagt Schmidt. Die erstaunliche makroskopische Wirkung des mikroskopisch optimierten Baustoffes zeigt sich in seinem Labor. 15 Zentimeter dünne Betonprüfmuster brechen dort erst, wenn eine Belastung auf ihnen ruht, die 40 Zehntonnen-Lkw entspricht.
Die Forscher wollen noch weiter in die Tiefe vordringen, getreu dem Motto des US-Nobelpreisträgers Richard Feynman: "Es gibt sehr viel Platz am unteren Ende". Damit meinte er die technischen Gestaltungsmöglichkeiten in der Nano-Welt. Ulm, Schmidt und ihre Kollegen versuchen demgemäß, einen neuen Ansatz zu entwickeln: "bottom-up" ("von unten nach oben") statt "top-down" ("von oben nach unten"). Der Baustoff soll von der atomaren Ebene aus neu gedacht werden.
Statt ein Defizit des Betons auf der Dimension X durch eine Veränderung auf der Ebene Y darunter zu ändern, starten die Forscher auf der atomaren Ebene und erkunden dort spielerisch Varianten einer neuen Beton-Chemie. So entstehen neue Varianten am atomaren Reißbrett.
Neues Hightech-Material soll aber mit gängiger Bautechnik realisiert werden, sagt MIT-Forscher Ulm. Dass das zumindest mit dem aktuellen UHPC schon geht, bewies er mit einer Brücke in der tiefsten US-Provinz – nach der Regel: Was in Kentucky funktioniert, funktioniert überall. Diese Brücke ließ er mit einer tragenden Schicht von nur 7,5 Zentimeter Stärke statt der üblichen 25 Zentimeter errichten. Weitere UHPC-Gebäude entstanden in Iowa und Virginia, im kanadischen Quebec und in Frankreich.
Eine erste filigrane UHPC-Brücke aus dem Kasseler Super-Beton ist die 2007 entstandene 140 Meter lange Gärtnerplatzbrücke über die Fulda in Kassel. Weitere Ideen sind schon geboren: Ein stark faserhaltiger und biegsamer UHPC-Beton wäre ideal, um die schwachen Schutzhüllen von Kernkraftwerken zu verstärken, sagt Schmidt. Mit dem Faserbeton könnten sogar, so zeigen Untersuchungen an seinem Institut, Hochhäuser gebaut werden, die dem Aufprall eines Passagierflugzeuges ohne größere Schäden widerstehen würden.
Besonders zur Ferienreisezeit interessiert die Frage, was das Hightech-Material den Autobahnen bringen könnte. Das untersucht Schmidts Team in Kassel gerade. "Wir gehen davon aus, dass sich die Stärke des Betonstraßenbelags von 30 auf 15 Zentimeter verringert. Das bringt unter Umständen viel schnellere Sanierungen von Autobahnen." Mit UHPC würde nicht nur rascher gearbeitet, die Haltbarkeit der Beläge könnte sich auch von 30 auf 60 Jahre verdoppeln. Das bedeutet: seltener Baustellen. Autofahrer dürfen also hoffen, wenn sie in diesen Ferien mal wieder im Stau feststecken.
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